Die Engel

Uns Eulen, sagt ihr Menschen ja gemein hin nach, weise zu sein. Ich weiß zwar nicht, woher ihr das so genau wissen wollt, aber vermutlich wirken wir so auf euch – weise. Das ehrt uns natürlich. Ich könnte jetzt sagen „Ehre, wem Ehre gebührt“ – aber wer kann schon von sich selbst sagen, dass er weise ist. So weit möchte ich mich nun wirklich nicht aus dem Fenster….äh vom Ast lehnen. Schließlich bin ich ja kein Mensch.

Also weise oder nicht weise, ist hier eigentlich gar nicht die Frage. Ich war wohl eher zur rechten Zeit, am rechten Ort. Genauer gesagt, ich war zur rechten Zeit – inmitten der Nacht – auf den Feldern von Bethlehem unterwegs. Was für eine Eule eigentlich nichts Besonderes ist. Der Bergriff „Nachteule“ kommt schließlich nicht von ungefähr. Besonders ist allerdings, was ich dort erlebt habe. Unglaubliches habe ich dort gesehen und gehört!

Aber jetzt bin ich irgendwie schon mitten in meiner Geschichte gelandet. Vielleicht sollte ich besser mal ganz von vorne anfangen.

Ja, es war eine wirklich seltsame Nacht. Das fing schon damit an, dass spät am Abend, kurz vor meinem Abflug, plötzlich die Stalltür aufging und zwei Menschen und ein Esel anfingen es sich in unseren vier Wänden gemütlich zu machen. Wo ist das Problem, werdet ihr fragen. Nun gut, ich muss zugeben, ich bin nicht mehr die Jüngste und zuweilen etwas kauzig. Ihr Menschen würdet das vielleicht Midlife-Krise nennen. Und so war mir an diesem Abend eben einfach nicht nach Besuch. Als Eule hat man da ja so seine Alternativen – in meinem Fall die Felder vor Bethlehem. Vom Zweig eines alten Olivenbaumes aus betrachtet, also aus der Vogelperspektive, ist das eine herrliche Gegend. Hier und da warf eine Feuerstelle der Hirten einen schwachen Lichtschein ins Dunkel der Nacht. Es war still hier draußen – wohltuend still, nach der Unruhe, die die Menschen in unseren Stall gebracht hatte. Ich saß auf meinem Olivenzweig, hing in aller Ruhe meinen Gedanken nach, genoss die frische Nachtluft – ihr Menschen würdet wohl sagen, ich chillte – und hatte wenigstens ein wachsames Eulenauge auf den Boden unter meinem Olivenzweig gerichtet, um mir die Chance auf einen Mitternachtssnack in Form einer netten kleinen Landmaus, nicht entgehen zu lassen. Herrlich! Einfach herr…herrje, war das plötzlich hell! Ich war so geblendet von dieser Helligkeit, dass ich alte Eule doch tatsächlich beinah von meinem Olivenzweig gefallen wäre. Sonne, mitten in der Nacht? Oder sollte ich etwa eingenickt sein? War es vielleicht schon heller Tag? Nein, unmöglich. Eine Nachteule wie ich, verschläft nicht die schönsten Stunden der Nacht! Ich blinzelte ins Licht und versuchte zu erkennen, was da vor sich ging. Was war das? Dort hinten, ganz in der Nähe des Hirtenfeuers, mitten im Licht, waren das etwa Menschen? Menschen mit Flügeln? Menschen mit Flügeln, die meine Ruhe störten und meine Chance auf einen Mitternachtssnack zunichte machten. Und was war das? Gesang? Musik? Hier draußen hörte man doch sonst nur die Hirten mit ihren rauen Stimmen sprechen und die Schafe blöken. Ganz langsam und leise breitete ich meine Flügel aus. Ich musste unbedingt näher an diese Menschen mit Flügeln heran. Naseweis, wie ich bin, wollte ich wissen, was da vor sich ging. Im Gleitflug suchte ich nach einem geeigneten Aussichtspunkt, während sich die Hirten unter mir ängstlich aneinanderdrückten und in das helle Licht blickten.

„Fürchtet euch nicht“, schallte es da plötzlich durch die Nacht. Leichter gesagt als getan. Unsereins ist hier draußen Dunkelheit und Stille gewohnt. Menschen mit Flügeln können eine alte Eule wie mich schon mal aus der Flugbahn werfen, wenn sie mit großer Beleuchtung plötzlich hier draußen auftauchen. Und so verfehlte ich vor Schreck den Zweig, den ich angepeilt hatte und landete mitten im Geschehen. Das Lagerfeuer habe ich dabei zum Glück knapp verfehlt. Es hätte in dieser Situation wohl auch niemand Appetit auf geröstete Eule gehabt.

„Fürchtet euch nicht! Gott schickt uns zu euch. Heute Nacht ist der Retter geboren auf den ihr schon so lange wartet. Folgt diesem Stern dort nach Bethlehem. In einem Stall findet ihr das Kind, das geboren wurde, um Licht in euer Dunkel zu bringen.“

Der Retter? Der Retter als Kind in einem Stall? Ein Kind in einem Stall, den man findet, wenn man diesem außergewöhnlich hellen Stern dort folgt? Ich hatte diesen Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, da waren die Menschen mit Flügeln, genauso plötzlich wie sie aufgetaucht waren auch schon wieder verschwunden. Weg von einer Sekunde auf die nächste mitsamt ihrer Beleuchtung. Dunkelheit lag jetzt wieder über den Feldern von Bethlehem und am Himmel strahlte ein großer, außergewöhnlicher Stern, den ich noch nie zuvor gesehen hatte.

Dem Stern folgen….bis nach Bethlehem… den Stall finden….das Kind sehen, das Licht in die Dunkelheit der Menschen bringt. Den Retter finden! Wenn das nicht eine Aufgabe für eine alte Nachteule wie mich war. Und so sortierte ich in aller Eile meine zerzausten Federn und machte mich auf den Weg. Den Stern immer im Blick flog ich Richtung Bethlehem. Dort stand der Stern vor den Toren der Stadt über – ich konnte nicht glauben was ich da sah – über unserem Stall. Das warf mich zum zweiten Mal in dieser Nacht aus der Flugbahn und ich landete auf einem Stein direkt vor unserem Stall, knapp neben einer kleinen Maus, die dort saß und fasziniert auf den hellen Stern starrte. Sanft legte ich einen Flügel um meinen Mitternachtssnack…äh die Maus: „Du musst keine Angst haben. In unserem Stall wurde heute Nacht der Retter geboren, auf den die Menschen schon so lange warten. Dieses Kind wird Licht und Liebe in unser Leben bringen. Das haben Menschen mit Flügeln und großer Beleuchtung, die Gott geschickt hat, den Hirten draußen auf den Feldern vor der Stadt verkündet.“

„Menschen mit Flügeln und großer Beleuchtung, die als Gottes Boten kommen, meine liebe Eule, nennen die Menschen Engel“, erklärte da mein Mitternachtssnack…äh die kleine Maus weise.

Heike Nied

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