Der Stern

Ich habe noch nie eine so seltsame Nacht erlebt. Seit Stunden sitze ich hier oben auf dem Balken und halte Wache. Schließlich haben wir Menschen im Stall. Da heißt es wachsam sein, ganz besonders für uns Mäuse. Meistens übermannt mich ja der Schlaf, wenn ich die Nachtwache habe, aber heute ist an Schlaf nicht zu denken. Aus der Ecke, in der die Menschen lagern, dringen ständig seltsame Geräusche an mein Ohr. Da geht irgendetwas vor, das weiß ich. Aber ich kann im schwachen Schein der Laterne aus meiner sicheren Entfernung nichts erkennen. Diese Nacht ist einfach zu dunkel, um etwas zu sehen und zu laut, um zu schlafen.
Und dann plötzlich höre ich ein ganz seltsames Geräusch. Wäre es nicht mitten in der Nacht, würde ich sagen – ein Hahn?
„Habt ihr das gehört? Hallo Freunde, aufwachen! Hört doch mal! Da kommen seltsame Geräusche aus der Ecke, in der es sich die Menschen auf meinem Mauseloch gemütlich gemacht haben. Hört ihr das? Also ein Hahn ist das wohl nicht, obwohl es irgendwie kräht. Findet ihr nicht?“
„Ein Hahn! Putz dir deine Mäuseohren! Da weint ein Baby! Mäusemänner! Ihr habt einfach keine Erfahrung mit dem Nachwuchs“, muss ich mir daraufhin von meiner Frau sagen lassen.
„Ein Baby? In unserem Stall? Ja, klar!“, fällt es mir wie Schuppen von den Augen. „Weißt du was das heißt? Die Frau hat es geschafft! Sie hat es wirklich geschafft! Wir haben es geschafft! Das Kind ist da! Das ist ja unglaublich. In unserem Stall in der Ecke über meinem Mauseloch ist ein Kind zur Welt gekommen. Los Freunde, das müssen wir uns ansehen.“
„Du bist gut, hier ist es so dunkel, dass man fast seine Pfote nicht vor Augen sieht. Nur die kleine Laterne in der Ecke wirft ein schwaches Licht auf die drei Menschen. Um das Baby zu sehen, müssen wir uns viel zu nah an die Menschen heranwagen. Die werden nicht gerade begeistert sein, wenn sie unsere Mäusenasen in der Nähe ihres Lagers entdecken“, weiß meine Frau mal wieder alles besser.
„Das Risiko gehe ich jetzt ein. Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan. Jetzt möchte ich den kleinen Störenfried nicht nur hören, sondern auch sehen. Komme was da wolle!“
Und so mache ich mich auf den Weg, runter vom Balken, quer durch den Stall Richtung Mauseloch-Ecke. Den Weg kenne ich im Schlaf. Und was soll ich euch sagen, kaum bin ich unterwegs, da wird es mit einem Schlag hell im Stall. Viel heller, als es sonst in den Nächten ist. Komisch. Licht, mitten in der Nacht? Und keine Lichtquelle weit und breit, außer dieser schwachen Laterne im Mauseloch-Eck.
„Leute, woher kommt dieses Licht?“, frage ich meine Kollegen.
„Sieh doch, das Licht fällt von draußen herein. Seltsam da ist ein Licht, aber ich kann keine Menschen hören. Wer hat diese Laterne angezündet?“, piepst meine Frau.
Frauen wissen immer alles besser und haben tausend Fragen. Jetzt ist es an mir den Helden zu spielen. Mein Mäuseherz klopft mir bis zum Hals vor lauter Angst, während ich mich ganz langsam dem Spalt in der Tür nähere, durch den wir Mäuse hier immer aus und ein gehen. Mit zitternden Pfötchen krabbele ich langsam hindurch und strecke meine Nase in die kalte Nachtluft. Und was sehen meine Augen da? Hier draußen ist es wirklich hell. Zumindest deutlich heller als in gewöhnlichen Nächten. Aber Menschen mit Laternen kann ich weder sehen, noch riechen oder hören. Da ist niemand.
Langsam hebe ich den Kopf und sehe mich um. Träume ich? Da, direkt über unserem Stall steht ein riesiger, wunderschöner Stern. Ein warmes helles Licht in der dunklen Nacht. So schön, dass ich mich für einen Moment mitten in der Nacht auf einen kalten Stein setzen muss, um den Himmel zu bestaunen.
Ich sage ja, ich habe noch nie eine so seltsam schöne Nacht erlebt, wie diese Nacht in unserem kleinen Stall vor den Toren von Bethlehem.

Heike Nied

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