Josef

Ich habe mir schon fast gedacht, dass ihr heute bei mir vorbeischaut. Musca, die Stubenfliege, hat mir erzählt, dass sie euch getroffen hat. Ja, Nazareth ist ein Dorf. Da wird geredet. Wir Tiere stehen euch Menschen da in nichts nach.
Es tut mir leid, aber heute kommt ihr wirklich ungelegen. Ich bin völlig fertig. Die ganze Nacht habe ich kein Auge zugemacht!
Eigentlich führe ich hier in der Werkstatt von Josef wirklich ein ruhiges Holzwurmleben. Und das ist auch gut so. Wir Holzwürmer sind genügsame Zeitgenossen. Mit ein paar alten Holzbrettern oder Möbelstücken, durch die wir uns hindurch fressen können, könnt ihr uns ganz leicht glücklich machen. Solange ihr uns in Ruhe lasst. Stress geht gar nicht!
Eigentlich führe ich hier ein wirklich ruhiges Holzwurmleben – ich wiederhole mich. Josef macht seine Arbeit, und ich mache meine Arbeit. Josef produziert Hobelspäne und ich Holzmehl. Dabei sind wir normalerweise die Ruhe selbst.
Normalerweise! Gestern war aber nicht normalerweise! So wie gestern habe ich Josef noch nie erlebt. Ich war gerade dabei mich durch ein altes, aber ziemlich leckeres Eichenholzscheid zu knabbern, da flog die alte Werkstatttür mit einem holzwurmohrenbetäubenden Knall auf! Mein erster Gedanke: Einbrecher, Diebe, römische Soldaten! Aber nichts dergleichen. Stattdessen musste ich voller Entsetzen beobachten, wie Josef wutentbrannt durch die Werkstatt tobte! Nichts war vor ihm sicher. Was ihm in die Hände fiel, flog – auch mein leckeres Eichenholzscheid. Und natürlich ich armer Holzwurm. Mit einem Knall landete ich an der Wand. Gut, dass so ein Holzscheid so einiges abpuffert. Trotzdem bin ich ganz schön durchgeschüttelt.
Und warum das alles. Na, noch Fragen? Herzensangelegenheiten natürlich. Wie immer die Frauen! Ich will jetzt nicht geschwätzig sein, aber das muss jetzt einfach raus. Ich verrate das auch nur euch und ihr sagt es ja ganz bestimmt nicht weiter. Nicht wahr?
Josef ist verliebt – in Maria. Und bis gestern wollte er sie auch heiraten. Die beiden sind sogar schon verlobt. Das kommt bei euch Menschen kurz vor verheiratet, habe ich mir sagen lassen.
Und jetzt kommt´s. Maria…. das dürft ihr aber wirklich nicht weitererzählen, ja?
Maria bekommt ein Kind – und Josef ist nicht der Vater! Das war vielleicht ein Schlag für meinen Werkstattgenossen. Aber damit nicht genug. Wisst ihr, wer angeblich der Vater sein soll? Gott! So eine Nachricht muss man erstmal verkraften.
Der arme Josef hatte wirklich keine gute Nacht. Und so ganz nebenbei – meine Nacht war auch nicht besonders. Ich bin fix und fertig. Ich könnte wirklich noch eine Mütze voll Schlaf gebrauchen. Aber hier kommt man ja nicht mehr zur Ruhe. In aller Herrgottsfrühe hat Josef mich aus dem Schlaf gerissen.

„Ja, Herr, ich vertraue dir! Ich werde bei Maria bleiben, so wie es mir dein Engel im Traum befohlen hat. Ja, Gott, ich werde zu Maria stehen und deinen Sohn hier in dieser Welt begleiten.“

Respekt! Das ist eine mutige Entscheidung. Aber mit Gottes Hilfe, wird bestimmt alles gut.

Heike Nied

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